Öffentlicher Raum = Politischer Raum
Ein Essay von Andreas Krištof,
erschienen in der BRÜCKE Nr. 39
Öffentlicher Raum = Politischer Raum
Öffentlicher Raum ist gleich politischer Raum. Durch die Protestmanifestationen von Occupy Wall Street, Gezi-Park, Tahrir-Platz und Majdan wurde diese Gleichung schlagartig aktuell und brachte damit den öffentlichen Raum und mit ihm den Platz als Brennpunkt des urbanen Lebens wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zurück. Die kontinuierlichen Demonstrationen in Israel gegen die geplante Justizreform haben es neuerlich bestätigt. Protest als unmittelbarste Form politischer Artikulation und Manifestation ist essentieller Bestandteil öffentlichen Raumes.
Noch mehr, er ist dem öffentlichen Raum immanent und lotet zugleich die Grenzen dieses aus. Die Kulturtheoretikerin Judith Butler schreibt in ihrem Buch „Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung“ (2015), dass politische Manifestationen im öffentlichen Raum immer gefürchtet waren, da sie, gleich ob als „Mob“ oder als geordnete Form einer Demonstration, immer auch unkontrollierte oder kontrollierte Willensäußerung einer Bevölkerung sind. Damit einhergehend stellt sich die Frage, ob demokratische, staatliche Strukturen ungezügelte Äußerungen der Volkssouveränität überstehen oder ob die Herrschaft des Volkes vielleicht auch in so etwas, wie Tyrannei der Mehrheit übergehen kann.
Hinzu kommt, dass der öffentliche Raum durch die Digitalisierung eine Erweiterung erfahren hat, die zunächst zwar die Etablierung gänzlich anderer Spiel- und Verhaltensegeln verhieß und der Demokratisierung insgesamt Vorschub leisten sollte. Heute wissen wir, dass dem nicht so ist. Allerdings wäre es falsch, zu behaupten, es hätte sich nichts geändert. Die digitale Welt hat deutlich ihre Spuren hinterlassen und sich dem physischen Raum im wahrsten Sinn des Wortes eingeschrieben.
Die Funktion des öffentlichen Raumes erfährt über die Jahrhunderte hinweg immer wieder unterschiedliche Wandlungen, etwa beim Übergang von einer Adels- zu einer Bürgergesellschaft. Aber erst die Mediatisierung der Gesellschaft führt zu einem gewaltigen Bedeutungsverlust, denn bis ins 19. Jahrhundert decken sich Öffentlichkeit und urbaner öffentlicher Raum durch die Direktheit der verbalen und der visuellen Kommunikation. Dass die Form der Kommunikation für die Gestalt des öffentlichen Raumes von Bedeutung ist, wird erst durch die neuen Technologien der Kommunikation und der Information klar, da die Kommunikation von der räumlichen Präsenz unabhängig wird. Seitdem ist der herkömmliche öffentliche Raum nicht mehr das, was er einmal war, der neue, digitale Raum hat allerdings nicht gehalten, was er versprochen hat. Im Zusammenspiel miteinander aber haben sie zu einer Re-politisierung des Begriffs und der Bedeutung von Öffentlichkeit geführt. Hat die Philosophin Hannah Arendt noch von der „körperlosen“ Konzeption politischen Handelns gesprochen und somit auch den digitalen Raum als Ort politischer Präsenz vorweggedacht, so spricht Judith Butler heute wieder von der Bedeutung der physischen Präsenz kollektiver Akteur:innen im physischen öffentlichen Raum. Mit dem Auftauchen der großen Menschenmengen auf dem Tahrir-Platz 2010 ist das Interesse an der Form und der Wirkung von öffentlichen Versammlungen im gesellschaftlichen Diskurs wieder entflammt. Schlicht die Erkenntnis, dass gesellschaftliche Veränderungen (Revolutionen) nicht nur den Platz, die Straße und die Form der Demonstration (damit einhergehend eben auch die Masse) brauchen – und den digitalen Raum zur Selbstorganisation dieser Massen nutzen –, führt uns die politische Dimension vor Augen.
Die politische Dimension des öffentlichen Raumes äußert sich aber nicht nur in der Demonstrations- und Versammlungsfreiheit, sondern auch dadurch, dass die Gestaltung dieses von allgemeiner Bedeutung ist. Der öffentliche Raum hat nach Walter Grasskamp, einen politischen Charakter auch darin, dass er ein verhandelbarer Raum ist, über den aber offenbar viel zu wenig verhandelt wird. Im Gegensatz dazu steigt der Mitbestimmungsanspruch der Stadtbewohner:innen schlagartig, wenn zeitgenössische Kunst installiert wird. Nichts skandalisiert den öffentlichen Raum so sehr wie ein Kunstwerk. Keine politische Demonstration, kein unansehnliches Hochhaus, keine Straßenkriminalität, keine allgegenwärtige Hundescheiße noch irgendein Stau – außer vielleicht aktuell die Protestformen von Klimaprotestierenden – vermag Bürger:innen so sehr zu empören und untereinander zu solidarisieren, wie es eine Plastik von Henry Moore in der Nachkriegszeit konnte oder eine konzeptuelle Arbeit von Esther und Jochen Gerz. Durch diese Skandalisierung wird der öffentliche Raum allerdings wieder ins Bewußtsein geholt. Die Bedeutung und Funktion des Raumes werden schlagartig erkannt. Die Reflexion dessen, was und wofür der öffentliche Raum steht, passiert über das Instrument von Kunst am unmittelbarsten und deutlichsten. Der öffentliche Raum wird plötzlich zum Territorium der Identifikation, natürlich auch in einem archaischen Reflex, der über Ausgrenzung funktioniert und damit den Komplexitätsgrad des modernen Lebens zu unterspielen versucht. Grundsätzlich besteht aber immer eine Diskrepanz von künstlerischen und kulturellen Raumdefinitionen und Raumwahrnehmungen. Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob Kunst im öffentlichen Raum auf die spezifischen Nutzungen eines Ortes, auf dessen Sozialfgeflecht eingehen und wie dabei das städtische Umfeld als Resonanzkörper funktionieren kann.
Und gänzlich unabhängig von Kunst im öffentlichen Raum, kann man – und hier schließt sich der Kreis zu den Anfangsgedanken – festhalten, dass Massenmedien und noch mehr digitale Massenmedien, einige der einst konstitutiven Funktionen des öffentlichen Raumes zentralisiert und kanalisiert (politische, ökonomische, kommunikative Elemente) haben.
Anders gesagt: Der öffentliche Raum braucht gegenwärtig immer ein Medium, dass außerhalb dieses Raumes und der einen bestimmten Zeit für die Übertragung und damit für die Sichtbarkeit und Wirkung über das Lokale hinaus sorgt.
Andreas Krištof
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